Die EU-Kommission läutet ihre Digital Single Market Initiative mit einer wettbe-werbsrechtlichen Untersuchung ein. Dazu Rechtsanwalt Hanno Wollmann.
Am 1. November 2014 hat die Juncker-Kommission mit viel Elan ihr Amt angetreten. Das erklärte Ziel ist es, die Kommission wieder zu einer treibenden Kraft für eine positive wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Europa zu machen. Dass die neuen Kommissare dabei nicht konfliktscheu sind, hat die für Wettbewerb zuständige Dänin Margrethe Vestager rasch bewiesen. Mit den jüngst versandten Beschwerdepunkten (Anklageschriften der Generaldirektion Wettbewerb) gegen Gazprom und Google hat sich die Brüsseler Behörde nach Jahren des Zögerns zwei Schwergewichte der Weltwirtschaft „zur Brust genommen“.
Angesichts des Google-Verfahrens mag die Mitteilung von Frau Vestager vom 6. Mai 2015, wonach die Kommission eine wettbewerbsrechtliche Untersuchung des elektronischen Handels eingeleitet hat, vielen im Internet tätigen Unternehmen wie eine Kriegserklärung erscheinen. Auch die in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten anhängigen kartellrechtlichen Verfahren gegen Online-Buchungsplattformen, dokumentieren das große Interesse der Wettbewerbsaufsicht am E-Commerce. Am 1. Juni 2015 hat die renommierte deutsche Monopolkommission die Diskussion weiter angeheizt und ein Sondergutachten mit etlichen Hand-lungsempfehlungen zu den Herausforderungen publiziert, vor denen die Wettbewerbspolitik in Bezug auf digitale Märkte steht.
Das World Wide Web im Fokus
Diese Entwicklung macht vor Österreich nicht halt. So hat die Bundeswettbewerbsbehörde 2014 mehrere Bußgeldentscheidungen gegen namhafte Elektronikunternehmen erwirkt, in denen es um Behinderungen des Absatzkanals Online-Verkauf durch Preisbindungsmaßnahmen ging.
Die von der Generaldirektion Wettbewerb eingeleitete Untersuchung ist Teil der Digital Single Market Initiative, die zu den Prioritäten der Juncker-Kommission zählt. Die Kommission verspricht sich von einer Vollendung des elektronischen Binnenmarktes eine Erhöhung der Wirtschaftsleistung Europas um gut € 415 Mrd pro Jahr und die Schaffung von hundert Tausenden neuen Arbeitsplätzen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Kommission umfassende gesetzgeberische Aktivitäten angekündigt, von einer Vereinheitlichung des Vertragsrechts bei Online-Geschäften über eine Verhinderung des Geo-Blocking, eine Adaptierung des Urheberrechts, eine Vereinheitlichung der Telekom-Regulierung bis hin zum Datenschutz im Internet. Es ist kein Zufall, dass die Kommission ihre „Roadmap“ zur Verwirklichung des digitalen Binnenmarkts am selben Tag veröffentlicht hat wie den Beschluss über die Einleitung der wettbewerblichen Sektoruntersuchung. Die beiden Initiativen greifen hintereinander. Zwar betont die Kommission gerne, wie wichtig ihr politische Unabhängigkeit ist, wenn es um die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten geht. Bei der Umsetzung ihrer eigenen Anliegen ist Brüssel aber völlig bewusst, dass das Kartellrecht in vieler Hinsicht ein politisches Instrument der Wirtschaftslenkung ist, das am besten zum Wohl der Bürger eingesetzt wird.
Unternehmensbezug
Im Rahmen der Sektoruntersuchung E-Commerce werden zahlreiche Unternehmen in der ganzen EU in den nächsten Wochen Post aus Brüssel erhalten. Nach den Aussagen von Kommissarin Vestager müssen insbesondere Betreiber von Online-Plattformen für Buchungen oder für Preisvergleiche, Inhaber und Vertreiber von medialem Content sowie Hersteller und Händler, die Waren und Dienstleistungen Online anbieten, mit Auskunftsverlangen rechnen. Im Fokus werden dabei voraussichtlich Verträge stehen, in denen der Online-Vertrieb der angebotenen Produkte geregelt wird. Die Kommission hat den ersten Zwischenbericht über die Ergebnisse der Sektoruntersuchung für Mitte 2016 und den Endbericht für Anfang 2017 angekündigt.
Onlineshops
Was den Online-Vertrieb betrifft, hat die Untersuchung das Potential, die Diskussionen um ein Thema erneut aufflammen zu lassen, um das es in den letzten 15 Jahren (Gruppenfreistellungsverordnung VO 2790/1999) recht ruhig geworden ist. Dabei geht es um die Frage, welchen Standpunkt das Kartellrecht zu vertikalen Bindungen (insbesondere zu Vertriebsverträgen, mit denen die Hersteller Einfluss auf den Absatz ihrer Produkte auf nach-folgenden Wirtschaftsstufen nehmen wollen) einnehmen soll. In diesen Diskussionen tut sich in den letzten Jahren eine Schere zwischen Wettbewerbsökonomie und Wettbewerbsbehörden auf. Während von Seite der Industrieökonomie zumeist betont wird, dass vertikale Bindungen in der Regel effizienzsteigernd sind und daher nur ausnahmsweise verboten werden sollten, tendieren die Wettbewerbsbehörden zunehmend zu einem formalen Ansatz. Auf diese Weise fällt es den Vollzugsorganen leichter, Phänomene wie z.B. Bestpreisklauseln in Buchungsplattformen in den Griff zu bekommen. Dabei besteht die Gefahr, dass die inhaltliche Auseinandersetzung zu kurz kommt. Ob es z.B. wirklich verwerflich ist, wenn ein Hersteller eine duale Preisstrategie verfolgt (höhere Verkaufspreise, wenn Waren online verkauft werden, niedrigere Preise für den stationären Handel), lässt sich mit juristischen Mitteln allein nicht sinnvoll beantworten. Ein niedrigerer Preis für den stationären Handel kann eine notwendige Voraussetzung sein, damit auch diese Vertriebs-form – trotz des digitalen Marktes – eine Zukunft hat.
Fazit
Der Digital Single Market ist eine Chance für Europa, die Initiative der Juncker-Kommission zu dessen Förderung ist zu begrüßen. Dabei stellen sich vielschichtige Themen, die einer sensiblen und fachkundigen Diskussion bedürfen. Die Anwendung des Kartellrechts kann dabei Hilfsdienste leisten. Die Wettbewerbsbehörden sollten in diesem Zusammenhang nicht nur Problemfälle bekämpfen und Strafen aussprechen, sondern zudem Lösungsmöglichkeiten für gerechtfertigte Anliegen aufzeigen.
Foto: Walter J. Sieberer
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