Vor dem Hintergrund geschlossener Schulen, Kindergärten und Amtsgebäuden stellt sich für viele öffentliche Auftraggeber die Frage, ob bestehende Dienstleistungs- bzw. Lieferverträge an die neuen Rahmenbedingungen angepasst werden können.
Insbesondere dann, wenn die Vertragserfüllung noch möglich und der Vertragspartner leistungsbereit ist, der Auftraggeber jedoch aufgrund der herrschenden Ausnahmesituation die Leistungen nicht benötigt, ist es ganz entscheidend, ob er einseitig Vertragsänderungen vornehmen kann.
Zivilrecht
Entsprechend der Judikatur des OGH zum Ausbruch der Infektionskrankheit SARS (OGH 14.6.2005, 4Ob103/05h) sind Epidemien als ein von außen kommendes unabwendbares und unvorhergesehenes Ereignis grundsätzlich unter dem Begriff „Höhere Gewalt“ zu subsumieren.
Zunächst sind die jeweiligen vertraglichen Grundlagen zu prüfen und festzustellen, ob für den Fall höherer Gewalt gegenseitige Vertragspflichten vollständig oder teilweise entfallen. Gegenständlich ist insbesondere relevant, ob der Vertrag bloß den Schuldnerverzug aufgrund höherer Gewalt regelt oder auch eine Vertragsanpassung vorgesehen ist, wenn die Leistungserbringung zwar noch möglich ist, jedoch aufgrund höherer Gewalt nicht mehr benötigt wird. Besteht keine ausdrückliche vertragliche Bestimmung, kommen die allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen zur Anwendung.
Vor dem Hintergrund der oben genannten OGH Entscheidung ist davon auszugehen, dass die weltweite COVID-19-Pandemie eine derartige Ausnahmesituation begründet, dass sich öffentliche Auftraggeber in den genannten Konstellationen auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage berufen können. Unter Geschäftsgrundlage sind die dem geschlossenen Rechtsgeschäft typischerweise zugrunde liegenden Umstände zu verstehen. Dabei handelt es sich um Rahmenbedingungen, mit denen jedermann, der einen solchen Vertrag abschließt, rechnet. Der Wegfall der Geschäftsgrundlage darf nicht demjenigen, der sich darauf beruft zurechenbar sein. Darüber hinaus muss der Eintritt dieser Änderung der verkehrstypischen Voraussetzungen für beide Vertragspartner unvorhersehbar sein. Dieses Rechtsinstitut soll durch Lückenfüllung unfaire Ergebnisse verhindern. Wird der Wegfall der Geschäftsgrundlage bejaht, berechtigt dies eine Vertragspartei in erster Linie zur Anpassung des Vertrages, weil sie dem Grundsatz der Vertragstreue besser Rechnung trägt (OGH 27.11.2001, 1 Ob 257/01b). Ist die Vertragserfüllung für diesen Vertragspartner an sich sinnlos geworden, kann er auch die Aufhebung des Vertrages fordern.
In den meisten Fällen wird das Festhalten am Vertrag wohl nicht insgesamt sinnlos sein, sondern nur für den Zeitraum der Pandemie bzw. der daraus folgenden Beschränkungen. Daher ist davon auszugehen, dass der betroffene öffentliche Auftraggeber nur zur Vertragsanpassung berechtigt sein wird.
Vergaberecht
Vorauszuschicken ist, dass nach ständiger Rechtsprechung des EuGH zivilrechtlich Vereinbarungen zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer (wie bspw. Vergleiche) nur dann ohne Durchführung eines erneuten Vergabeverfahrens möglich sind, wenn sie als nachträgliche Vertragsänderung iSd Vergaberechts zulässig sind. Dies gilt selbst dann, wenn das Auftragsvolumen reduziert wird (EuGH Rs C-549/14, Finn Frogne A/S). Daher ist zu prüfen, ob eine zivilrechtlich mögliche Vertragsänderung auch vergaberechtlich ohne die Durchführung eines erneuten Vergabeverfahrens zulässig ist.
Gem § 365 Abs 3 BVergG sind ua folgende unwesentliche nachträgliche Vertragsänderungen zulässig, sofern sich der Gesamtcharakter des Vertrages dadurch nicht verändert:
1. Vertragsänderungen aufgrund präziser Vertragsänderungsklauseln im ursprünglichen Vertrag
Vorauszuschicken ist, dass die üblichen Force-Major-Klauseln den vergaberechtlichen Anforderungen nicht genügen. Dazu müssen sie konkrete Angaben zum Umfang und Art der möglichen Änderungen sowie die Bedingungen, unter denen sie zur Anwendung gelangen, enthalten. Es ist sohin davon auszugehen, dass solche Klauseln in den meisten Fällen nicht zur vergabefreien Vertragsänderung berechtigen.
2. geringfügige Änderungen der Auftragssumme bis zu 10 % der ursprünglichen Auftragssumme, sofern sie den Schwellenwert nicht übersteigen (€ 214.000,- für Liefer- und Dienstleistungsaufträge eines klassischen öffentlichen Auftraggebers)
Diese Ausnahme umfasst sämtliche Änderungen des Vertrages, sohin sind Verringerungen und Erhöhungen der Auftragssumme additiv zu betrachten. Heranzuziehen ist der jeweilige Betrag ohne Umsatzsteuer.
3. Änderungen, die aufgrund unvorhersehbarer Umstände erforderlich sind
Diese Ausnahme umfasst Vertragsänderungen, die aufgrund von Umständen erforderlich sind, die ein seiner Sorgfaltspflicht nachkommender Auftraggeber nicht vorhersehen konnte. Der Gesamtwert der zusätzlichen Leistungen darf 50 % des Wertes des ursprünglichen Auftrages nicht übersteigen.
Hinweis: Sofern das ursprüngliche Vergabeverfahren nach den Regeln für den Oberschwellenbereich erfolgte, sind nachträgliche Vertragsänderungen aufgrund unvorhersehbarer Umstände innerhalb von 30 Tagen ab Änderung national und EU-weit bekanntzumachen.
Die COVID-19-Pandemie stellt unstrittig auch für umsichtige Auftraggeber einen unvorhersehbaren Umstand iSd BVergG dar. Sohin sind Vertragsänderungen, die aufgrund der Pandemie bzw ihrer unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen nach dieser Bestimmung jedenfalls zulässig, sofern sie den Gesamtcharakter des Vertrages nicht ändern. Nach dem Gesetzeswortlaut bezieht sich die Betragsgrenze nur auf zusätzliche Leistungen. Sohin ist sie bei einer Verringerung des Leistungsvolumens nicht relevant.
4. Änderungen, die unabhängig von ihrem Wert als nicht wesentlich anzusehen sind
Dieser Auffangtatbestand ist zuletzt zu prüfen. Für die allgemeine Ausnahme unwesentlicher Änderungen ist die theoretische Beurteilung, ob die mit der Änderung eingeführten Bedingungen zu einem anderen Bieterkreis oder zur Annahme eines anderen Angebotes geführt hätten (Wettbewerbsrelevanz), entscheidend. Darüber hinaus darf das wirtschaftliche Gleichgewicht des Vertrages nicht zugunsten des Auftragnehmers verändert werden und das Auftragsvolumen nicht in einem erheblichen Ausmaß ausgeweitet oder verringert wird.
Beabsichtigt der öffentliche Auftraggeber nur den Leistungszeitraum nach hinten zu verschieben, stellt diese Änderung demnach insb. mangels Wettbewerbsrelevanz eine unwesentliche Vertragsänderung dar, die vergaberechtlich zulässig ist.
Ergebnis
Aufgrund der gegenständlichen COVID-19-Pandemie sind öffentliche Auftraggeber grundsätzlich berechtigt bestehende Verträge einseitig anzupassen und Leistungszeiträume zu verschieben bzw die Leistungserbringung für einen bestimmten Zeitraum auszusetzen. Die Berechtigung entgegen dem Willen des Vertragspartners einseitig eine Vertragsanpassung durchzusetzen, ergibt sich aus dem Wegfall der Geschäftsgrundlage und die daraus entstehende Unzumutbarkeit. Aufgrund höherer Gewalt sind Schulen und Kindergärten unerwartet geschlossen worden und ist der Bedarf des öffentlichen Auftraggebers an Reinigungsleistungen damit weggefallen.
Diese nachträgliche Vertragsänderung ist ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens insbesondere dann zulässig, wenn sie aufgrund der unvorhersehbaren Ausnahmesituation erforderlich oder geringfügig ist. Vertragsklauseln werden voraussichtlich nicht ausreichend sein, um nachträgliche Vertragsänderungen im vergaberechtlichen Sinn zu begründen. Wird das Auftragsvolumen gar nicht geändert, sondern nur die Leistungszeiträume angepasst, liegt eine im Allgemeinen unwesentliche Vertragsänderung vor. Je nachdem auf welcher vergaberechtlichen Ausnahme die Vertragsänderung gestützt wird und ob der ursprüngliche Auftrag im Oberschwellenbereich lag, besteht eine allfällige Verpflichtung zur Bekanntmachung der Vertragsänderung.
Es muss darauf hingewiesen werden, dass der Wegfall der Geschäftsgrundlage und die vergaberechtlich unvorhersehbar erforderlich gewordene nachträgliche Vertragsänderung eine besondere Ausnahmesituation voraussetzen und sohin nur unmittelbar durch die Pandemie bedingte Vertragsänderungen umfassen. Aus unserer Sicht bestehen sowohl zivil- als auch vergaberechtliche Bedenken gegen eine gänzliche Vertragsauflösung aufgrund der COVID-19-Pandemie. Eine solche Vorgehenswese bedarf jedenfalls einer Einzelfallprüfung.
Foto: beigestellt
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