Während das befristet eingeführte Kronzeugenmodell im Strafrecht bislang kaum in Anspruch genommen wurde, sind vergleichbare Modelle in anderen Rechtsbereichen längst etablierte Praxis.
Warum ist das so und ist es überhaupt rechtspolitisch wünschenswert, dass Rechtsbrecher straffrei bleiben? Ein Kartell- und ein Strafrechtsexperte der etablierten Wirtschaftsrechtskanzlei Haslinger Nagele beantworten die relevanten Fragen.
Redaktion: Wie funktioniert ein Kronzeugenmodell?
René Haumer: Das österreichische Strafrecht beinhaltet eine „kleine“ wie auch eine „große“ Kronzeugenregelung. Unter der „kleinen Kronzeugenregelung“ garantiert das Gesetz einem Täter innerhalb der organisierten Kriminalität zwar nicht gänzliche Straffreiheit, aber doch mildernde Umstände, wenn er sich als Belastungszeuge der Anklage zur Verfügung stellt. Die „große Kronzeugenregelung“ soll demgegenüber Täter eines in die Zuständigkeit der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft fallenden oder im Bereich der organisierten Kriminalität angesiedelten Deliktes gänzliche Straffreiheit bringen, wenn seine Täterschaft den Strafverfolgungsbehörden noch nicht bekannt ist und seine Angaben wesentlich die Aufklärung der Straftat oder die Ausforschung weiterer Täter fördern.
Alexander Hiersche: Im Bereich des Kartellrechts hat das Unternehmen, das als Erstes die zuständige Wettbewerbsbehörde von einer verbotenen Absprache, an der es teilgenommen hat, informiert, die Möglichkeit, Immunität vor einer allfälligen Geldbuße nach dem Kartellrecht zu erlangen. Unternehmen, die in weiterer Folge mit der Behörde kooperieren und einen Beitrag zur Aufklärung der Vorkommnisse leisten, können Ermäßigungen auf die allenfalls zu leistende Geldbuße erhalten.
Kann ein Kronzeugenmodell einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung von Rechtsverletzungen leisten?
Alexander Hiersche: Insbesondere bei schwerwiegenden Verstößen gegen das Kartellrecht, manche sprechen in diesem Zusammenhang von „Hardcore-Kartellen“, ist den Beteiligten die Unrechtmäßigkeit ihres Handelns oftmals bewusst. Mitunter unternehmen sie deshalb große Anstrengungen, um die verbotenen Absprachen geheim zu halten. Das beginnt bei der Wahl der Kommunikationsmittel und kann bis zu Decknamen für die Akteure und/oder ihre Produkte reichen. Wettbewerbsbehörden können solche Verstöße nur unter erheblichem Aufwand aufdecken. Das Kronzeugenmodell bietet einen Anreiz für Unternehmen, die an solchen Verhaltensweisen beteiligt sind, diese selbst zu beenden und den Behörden zur Aufklärung und Abstellung des Kartells notwendige Informationen zu liefern. Dadurch werden insgesamt mehr Kartelle aufgedeckt. Auf Nachfrage hat etwa die Europäische Kommission kürzlich mitgeteilt, dass zirka 80% der derzeit von ihr behandelten Fälle auf Kronzeugenanträge zurückgehen. Dieser Umstand kann auch eine präventive Wirkung entfalten. Unternehmen erhalten zudem einen Anreiz, vergangene „Sünden“ nicht unter den Teppich zu kehren, sondern im Rahmen von Compliance-Maßnahmen aufzuarbeiten. Zusätzlich sparen die Behörden Ressourcen, die sie anderweitig zur Rechtsdurchsetzung einsetzen können.
René Haumer: Der „Nutzen“ der kleinen Kronzeugenregelung zur Kriminalitätsbekämpfung wird zwar vielfach behauptet, ist aber – nicht zuletzt aufgrund seines reduzierten Anwendungsbereiches auf Delikte der organisierten Kriminalität – empirisch bislang kaum belegt. Die große Kronzeugenregelung wurde vielfach als „Heilsbringer“ zum Aufbrechen insbesondere von Korruptionsdelikten propagiert. Mit Ausnahme eines einzigen in Österreich sehr prominent gewordenen Kronzeugenantrages sind zumindest öffentlich keine Fälle bekannt geworden, in denen jemand diese „goldene Brücke“ zum Ausstieg aus der Strafbarkeit überschritten hätte.
Weshalb scheint das Kronzeugenmodell im Kartellrecht ein Erfolgsmodell zu sein, während es im Strafrecht floppt?
René Haumer: Die große Kronzeugenregelung hat zwei wesentliche Schwachpunkte: Zwar hat der potentielle Kronzeuge zwar einen Rechtsanspruch auf Straffreiheit. Die für die Straffreiheit entscheidende Frage, ob die von ihm offen gelegten Tatsachen wesentlich zur Aufklärung beigetragen haben, setzt aber eine dem Ermessensbereich der Strafverfolgungsbehörde ausgesetzte Entscheidung voraus, die mitunter erst nach Abschluss der Ermittlungen getroffen werden kann. Die „Planbarkeit“ der Straffreiheit des Kronzeugen ist insofern mit erheblichen Unsicherheiten verknüpft. Zudem beseitigt ein Kronzeugenantrag nicht die zivilrechtlichen Folgen seines deliktischen Tuns, für die der Kronzeuge als (Mit-)Täter einzustehen hat.
Alexander Hiersche: Eine garantierte Bußgeldbefreiung gibt es allerdings auch im Kartellrecht nicht. So besteht etwa das Risiko, dass ein anderes Unternehmen das möglicherweise rechtswidrige Verhalten früher der zuständigen Wettbewerbsbehörde gemeldet hat. Allerdings kann Kooperation mit der Wettbewerbsbehörde dann immer noch zu einer Reduktion einer allfälligen Geldbuße führen. Ferner sind Fälle bekannt, in denen über Kronzeugen eine Geldbuße verhängt wurde, weil sie nach Ansicht der Wettbewerbshüter Teil eines weiteren Kartells waren als sie selbst zugaben. Kronzeugenanträge sollten daher mit großer Sorgfalt ausgearbeitet sein. Besondere Probleme stellen sich überdies bei grenzüberschreitenden Kartellen, weil in solchen Fällen möglicherweise eine Mehrzahl von Behörden informiert werden sollte. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass ein Kartellverstoß gleichzeitig auch als gerichtlich strafbare Handlung verfolgt wird, etwa bei wettbewerbsbeschränkenden Absprachen im Rahmen von Vergabeverfahren; der Kronzeugenantrag bei der Wettbewerbsbehörde würde nicht automatisch auch vor einem Strafverfahren schützen. Letztlich können auch Kronzeugen Adressaten von allfälligen Schadenersatzforderungen geschädigter Geschäftspartner, Mitbewerber und/oder Konsumenten sein. Für diese haften sie wie alle übrigen Mitglieder des Kartells auch.
Ist es überhaupt rechtspolitisch wünschenswert, eine Person oder ein Unternehmen, die bzw. das selbst eingesteht, rechtswidrig gehandelt zu haben, nicht zu bestrafen?
René Haumer: Diese fehlende Fairness war oftmals zentraler Bestandteil der Kritik an der bestehenden großen Kronzeugenregelung. Der Staat „solidarisiere“ sich mit einem „Verrat „, der „Denunziation werde Vorschub geleistet“ oder staatliches Handeln werde unglaubwürdig, wenn Verfolgung und Bestrafung dadurch erfolgen solle, dass andere Verbrecher nicht mehr verfolgt und bestraft werden, meinten die Skeptiker. Die Befürworter hoben demgegenüber hervor, dass nur eine garantierte Straffreiheit eines Kronzeugen „zur Aushebelung der Omertà“ beitragen könne.
Alexander Hiersche: Pragmatisch betrachtet können Kronzeugenanträge dazu beitragen, dass verbotene Verhaltensweisen häufiger und früher aufgedeckt und beendet werden, wovon auch eine präventive Wirkung ausgehen kann. Sie tragen also dazu bei, dass von den Geschädigten – Vertragspartnern, Mitbewerbern und/oder Konsumenten – ein noch größerer Schaden abgewendet wird. Allerdings ist klar, dass viele ein gewisses Unbehagen empfinden, wenn einer Person, die erwiesenermaßen gegen geltendes Recht verstoßen hat, Straffreiheit gewährt wird. Das ist wohl in allen Rechtsbereichen gleich. Wie groß dieses Unbehagen ist, dürfte allerdings von der Art des Rechtsverstoßes abhängen. Und vielleicht tut man sich gerade deshalb in manchen Bereichen des klassischen Strafrechts mit Kronzeugenregelungen so schwer.
Das Interview führte Ing. Ma. Walter J. Sieberer
Foto: Walter J. Sieberer
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