Auf dem Weg zur europäischen Schiedsgerichtsbarkeit

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Die Integration Europas schreitet auch in der Schiedsgerichtsbarkeit voran. Die wichtigsten Fragen sind, ob und wie Schiedsrichter Normen des Unionsrechts anwenden sollen, wie sie zu den dafür notwendigen Tatsachenfeststellungen gelangen, und auf welche Weise ihre Entscheidungen überprüft werden können. In keinem dieser Themenbereiche bietet das Unionsrecht eindeutige Antworten, und auch die Schiedsrechte der Mitgliedsstaaten sind uneinheitlich. Dementsprechend vielfältig und oft widersprüchlich sind die Entscheidungen, welche in Europa tätige Schiedsgerichte und die Gerichte der Mitgliedsstaaten erlassen.

Bedeutung des Unionsrechts

Rechtsakte der EU können das Recht der Mitgliedsstaaten ändern, ergänzen oder ganz ersetzen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) verlangt von Schiedsgerichten daher, dass sie Unionsrecht anwenden. Die erste Herausforderung für ein Schiedsgericht liegt darin herauszufinden, welche Normen des Unionsrechts es zwingend anwenden muss, und welche Normen es bloß zu prüfen braucht, wenn sich die Parteien darauf berufen. Aktuell konzentriert sich die Diskussion insbesondere auf die Frage, welche Bestimmungen der EU-Verträge, der Verordnungen und Richtlinien so wichtig sind, dass ihre Verletzung als Verstoß gegen den ordre public angesehen werden kann, den auch ein Schiedsgericht verhindern muss. Beispiele hierfür sind das europäische Wettbewerbs- und Beihilferecht sowie andere für den freien Binnenmarkt zentrale Regelungen wie etwa der Konsumentenschutz.

Selbst wenn klar ist, dass es sich bei einer Bestimmung des Unionsrechts um eine grundlegende Norm handelt, die auch Schiedsrichter zwingend beachten müssen, stellt sich die Frage, ob ein Schiedsgericht berechtigt ist, eigenständige Beweiserhebungen zu veranlassen, die über Anträge der Parteien in dem Schiedsverfahren hinaus gehen. Die Lösungen werden in den einzelnen Mitgliedsstaaten je nach Rechtstradition unterschiedlich ausfallen. Soll aber die Antwort auf diese Frage wirklich davon abhängen, welche Auffassung in dem Staat überwiegt, in dem das Schiedsgericht seinen Sitz hat oder dessen Recht es anwendet?

Hat ein Schiedsgericht ein relevantes Problem des Unionsrechts identifiziert und die notwendigen Beweise aufgenommen, muss es sich fragen, inwieweit es an Entscheidungen von Behörden der EU oder der Mitgliedsstaaten gebunden ist. Anders als staatliche Gerichte sind nämlich Schiedsgerichte in keine Zuständigkeitsordnung eingebettet, sodass Fragen der Bindungswirkung kaum befriedigend allgemein zu lösen sind. Schiedsgerichte und staatliche Behörden können daher bei der Anwendung von Unionsrecht zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Die sich daraus ergebende Rechtsunsicherheit zu beseitigen, wird Aufgabe der Rechtsentwicklung in den nächsten Jahren sein.

Vereinbarkeit mit Unionsrecht
Schiedsgerichten ist es verwehrt, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Rechtsfragen zum Unionsrecht zur Vorabentscheidung vorzulegen, bevor sie einen Schiedsspruch fällen. Auch wenn solche Vorabentscheidungsverfahren die Dauer von Schiedsverfahren verlängern würden, könnten sie doch die Rechtssicherheit erheblich erhöhen. Gelingt dies nicht, könnte eine praktikable Lösung darin liegen, dass alle Mitgliedsstaaten ihre Gerichte verpflichten, dem EuGH auf Aufforderung eines Schiedsgerichts Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Auf diese Weise ergäbe sich für die Parteien eines Schiedsverfahrens eine wesentliche Ersparnis an Zeit und Kosten gegenüber der geltenden Rechtslage.

Derzeit kann ein Schiedsspruch nur auf seine Vereinbarkeit mit Unionsrecht geprüft werden, wenn die unterlegene Partei den Schiedsspruch oder dessen Vollstreckbarkeit vor einem staatlichen Gericht anficht. Die dafür notwendigen Verfahren sind in den Mitgliedsstaaten unterschiedlich lange, teuer und aussichtsreich, und sie führen immer wieder zu sehr erstaunlichen Ergebnissen und großer Unsicherheit. Erschwert wird diese Situation dadurch, dass in der EU keine einheitliche Zuständigkeitsvorschrift festlegt, die Gerichte welchen Mitgliedsstaats zuständig sind, um über die Aufhebung eines Schiedsspruches oder dessen Vollstreckbarkeit mit Wirkung für die gesamte EU zu entscheiden. Es ist daher durchaus möglich, dass unterschiedliche Gerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, wie das Unionsrecht auszulegen ist, oder ob es notwendig ist, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Wenigstens in dieser Frage können Streitparteien, Anwälte und Schiedsrichter bald aufatmen: die Europäische Kommission hat vor einem Jahr einen Vorschlag für eine Regelung der Zuständigkeiten für gerichtliche Entscheidungen in Zusammenhang mit Schiedsverfahren vorgelegt, dem noch das Europäische Parlament und der Rat zustimmen müssen.

Die Vorteile der Schiedsgerichtsbarkeit überwiegen
Die Herausforderungen an Schiedsgerichte bei der Anwendung von Unionsrecht ändern allerdings nichts an den Vorteilen der Schiedsgerichtsbarkeit gegenüber staatlichen Gerichten: flexible Verfahren in beliebiger Sprache, rasche und bindende Entscheidungen durch selbst gewählte Experten(schieds)richter und weltweite Vollstreckung.

Dr. Florian Kremslehner und Dr. Christoph Stippl, LL.M., sind Partner bei DORDA BRUGGER JORDIS und leiten den Arbitration Desk

www.dbj.at

Foto: Florian Kremslehner,  Christoph Stippl, beigestellt

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