RECHTSGRUNDLAGE: Die Europäische Kommission kann vorsätzlich oder fahrlässig begangene Verstöße gegen das Kartellverbot des Art. 101 AEUV (früher: Art. 81 EG-Vertrag) mit Geldbußen von bis zu 10 % des Umsatzes eines an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens ahnden (Art. 23 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003).
Die Kartellbußgelder insbesondere der Europäischen Kommission bewegen sich in schwindelerregenden Höhen. Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Kommission für die Festsetzung der Höhe des Bußgeldes auf den Konzern des betroffenen Unternehmens abstellt und das Bußgeld nicht nur gegen das Tochterunternehmen verhängen kann, das unmittelbar an dem Kartell beteiligt gewesen ist, sondern auch gegen die (direkte und/oder indirekte) Muttergesellschaft als Gesamtschuldnerin. Dies schließt auch die Konzernobergesellschaft ein. Es kommt daher nicht selten vor, dass drei oder vier Gesellschaften ein und desselben Konzerns zur Haftung herangezogen werden. Diese Zurechnung innerhalb eines Konzerns setzt lediglich voraus, dass die Muttergesellschaft eine sog. wirtschaftliche Einheit mit der betreffenden Tochtergesellschaft bildet. Diese vom EuGH bereits bestätigten Grundsätze führen de facto zu einer verschuldensunabhängigen Erfolgshaftung der Muttergesellschaft.
Wirtschaftliche Einheit. Der Begriff des Unternehmens ist als eine „wirtschaftliche Einheit“ zu verstehen und kann rechtlich aus mehreren natürlichen und juristischen Personen gebildet werden. Für das Vorliegen oder Fehlen einer wirtschaftlichen Einheit kommt es darauf an, ob die Tochtergesellschaft unabhängig und eigenständig über ihr Verhalten im Markt entscheiden kann oder insoweit im Wesentlichen die Weisungen ihrer Muttergesellschaft zu befolgen hat. Können Mutter- und Tochtergesellschaft als wirtschaftliche Einheit angesehen werden, so ergibt sich die gravierende Rechtsfolge, dass sich die Obergrenze des Bußgeldes nicht nach dem Umsatz der Tochtergesellschaft, sondern nach dem gesamten Konzernumsatz bemisst. Grundsätzlich setzt die fehlende Eigenständigkeit der Tochtergesellschaft zum einen die Möglichkeit einer entscheidenden Einflussnahme auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft durch die Muttergesellschaft voraus und zum anderen die tatsächliche Ausübung dieser Möglichkeit. Jedoch ist nach der Akzo Nobel-Rechtsprechung nicht nur davon auszugehen, dass in Fällen, in denen die Muttergesellschaft 100 % des Kapitals der am Kartell beteiligten Tochtergesellschaft hält, ein bestimmender Einfluss ausgeübt werden kann, sondern es besteht zudem eine widerlegbare Vermutung dafür, dass die Muttergesellschaft auch tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausgeübt hat.
Beweislast.
Was die Frage der Beweislast angeht, reicht es für den EuGH bereits aus, wenn die Kommission den im Regelfall unproblematischen Nachweis erbringt, dass die Muttergesellschaft das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hält, um annehmen zu können, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik des Tochterunternehmens ausübt. Es ist dann Sache der Muttergesellschaft, diese Vermutung zu widerlegen.
Generelle Einflussnahme ausreichend.
Die Widerlegung der Vermutung wird der Muttergesellschaft dadurch erschwert, dass es nach dem EuGH nicht erforderlich ist, dass die Muttergesellschaft Einfluss auf diejenigen Geschäftsbereiche der Tochtergesellschaft nehmen muss, in denen der Kartellverstoß stattgefunden hat (z.B. Preis- und Vertriebspolitik). Vielmehr soll es nach der Rechtsprechung ausreichen, wenn lediglich ein genereller Einfluss auf die Geschäftspolitik der Tochter genommen wird. Bei der Prüfung wird man davon auszugehen haben, dass bereits der Einfluss der Muttergesellschaft auf ihre Tochtergesellschaft in Bezug auf Unternehmensstrategie, Betriebspolitik, Investitionen, Kapazitäten oder die Finanzmittelausstattung für die Bejahung einer wirtschaftlichen Einheit und damit eines einheitlichen Unternehmens im Sinne der oben genannten Bußgeldvorschrift genügt.
Verschulden.
Ob eine derart weitreichende Haftung der Muttergesellschaft mit dem Verschuldensprinzip vereinbar ist, erscheint mehr als fraglich. Dieses Prinzip erfordert, dass eine kartellrechtliche Zuwiderhandlung nur derjenigen juristischen Person zugerechnet werden kann, die am Verstoß in irgendeiner Weise beteiligt gewesen ist. Aber in vielen Fällen, insbesondere bei dezentral organisierten Unternehmen, wird man zumindest in der Konzernspitze weder Kenntnis von den Machenschaften der Tochtergesellschaft noch konkrete Hinweise für deren Zuwiderhandlungen gehabt haben. Gleichwohl soll die Muttergesellschaft nach der Akzo Nobel Rechtsprechung als Gesamtschuldnerin haften.
Das Rohtabak-Kartell Urteil.
Nach den geschilderten Haftungsgrundsätzen erschien es faktisch nahezu ausgeschlossen, dass eine Muttergesellschaft die Vermutung, sie nehme Einfluss auf die Geschäftspolitik ihrer Tochtergesellschaft, widerlegen kann. Insofern kann man das am 27.10.2010 in der Rechtssache T-24/05 Alliance One International, Inc. (früher: Standard Commercial Corp.) und andere ./. Europäische Kommission ergangene Urteil durchaus als kleine Sensation bewerten. Das Gericht hat darin erstmals die Haftung einer Muttergesellschaft verneint und die Bußgeldentscheidung der Kommission insoweit aufgehoben. Die Muttergesellschaft wurde insbesondere deshalb aus der gesamtschuldnerischen Haftung entlassen, weil sich nach Auffassung der Richter in den Dokumenten, auf die die Entscheidung gestützt war, keinerlei Hinweise darauf finden ließen, dass die Muttergesellschaft in irgendeiner Weise Einfluss auf die Geschäftspolitik ihrer Tochtergesellschaft genommen hatte.
Bußgeldhöhe.
Im Ergebnis hatte die Verneinung der Haftungskriterien keine Auswirkungen auf die Höhe des von der Kommission verhängten Bußgelds, weil es sich bei der betreffenden Muttergesellschaft nicht um die Konzernobergesellschaft handelte. In Bezug auf die Obergesellschaft der Standard Commercial Gruppe stellte das Gericht hingegen fest, dass aus den Unterlagen hervorgehe, dass Standard Commercial Corp das Marktverhalten ihrer indirekten 100%igen Tochtergesellschaft in bestimmter Weise beeinflusst hatte, mithin ihre gesamtschuldnerische Haftung für die Kartellrechtsverletzungen nicht zu beanstanden sei.
Ausblick.
Das Urteil des Gerichts im spanischen Rohtabakfall ist zu begrüßen, da es möglicherweise einen Weg aufzeigt, die vom Gerichtshof im Akzo Nobel Urteil legitimierte Vermutung einer tatsächlichen Einflussnahme der Muttergesellschaften auf die Geschäftspolitik der 100%igen Tochtergesellschaft zu widerlegen. Eine Haftung der Muttergesellschaft sollte nur dann in Betracht gezogen werden, wenn die Kommission über hinreichende Beweise dafür verfügt, dass die Muttergesellschaft in die Geschäftsvorgänge der kartellrechtswidrig agierenden Tochtergesellschaft involviert ist und diese bestimmt. Demgegenüber sollte eine Haftung der Muttergesellschaft ausscheiden, wenn ihr der Nachweis geling, dass die von der Kommission zur Begründung der Entscheidung herangezogenen Unterlagen nicht den Schluss zulassen, dass tatsächlich Einfluss auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft ausgeübt wird. In einem solchen Fall wird man die Vermutung in Anlehnung an die Rechtsprechung des Gerichts als widerlegt anzusehen haben, mit der Folge, dass die Muttergesellschaft nicht als Adressat der Bußgeldentscheidung in Betracht kommt.
Dr. Günter Bauer, LL.M.
guenter.bauer@wolftheiss.com
Dr. Jochen Anweiler
jochen.anweiler@wolftheiss.com
Foto: Oben vl.n.r. Günter Bauer, Jochen Anweiler, unten: Georg Bauer ©Walter J. Sieberer
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