OGH: Anlegerschutz hat Vorrang vor Kapitalerhaltungsvorschriften

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Der Anlegerschutz steht in einem Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Kapitalerhaltungsbestimmungen, die für Kapitalgesellschaften wie die AG oder GmbH gelten. Nach den Kapitalerhaltungsvorschriften haben Aktionäre nur Anspruch auf den in der Bilanz ausgewiesenen Bilanzgewinn, sofern dessen Ausschüttung in der Hauptversammlung beschlossen wird (§ 52 AktG). Den Aktionären dürfen ihre Einlagen nicht zurück gewährt werden. Weiters ist es einer AG, bis auf wenige Ausnahmen, nicht gestattet, eigene Aktien zu erwerben (§ 65 AktG). Die Ansprüche geschädigter Anleger, die Aktien an börsenotierten Gesellschaften erworben haben, zielen im Ergebnis aber gerade darauf ab: bei Verstößen gegen die Prospektpflicht haben Anleger, die auf die Richtigkeit des Prospektes vertraut haben, Anspruch auf Schadenersatz (§ 11 KMG). Schadenersatzansprüche sind primär durch Naturalrestitution zu erfüllen (§ 1323 ABGB), also durch Herstellung des „Urzustandes“. Der Anspruch des Anlegers, der im Vertrauen auf einen unzutreffenden Prospekt Aktien im Zuge einer Kapitalerhöhung (Emission) gekauft hat, ist auf Rückerstattung des seinerzeit bezahlten Kaufpreises gegen Rückgabe seiner Aktien an die Emittentin, also die Gesellschaft, gerichtet. Damit wird den Anlegern ihre Einlage zurückgewährt und die Gesellschaft erhält im Gegenzug eigene Aktien.

Dieses Spannungsverhältnis hat der OGH nun klar zugunsten der Anleger entschieden. Er gab einem Anleger Recht, der die emittierende AG auf Rückzahlung des Emissionspreises gegen Rückübertragung seiner (wertlosen) Aktien klagte. Der OGH hat dies damit begründet, dass der Aktionär bei der Befriedigung von Prospekthaftungsansprüchen nicht als solcher, sondern wie ein schadenersatzberechtigter Gläubiger zu behandeln ist. Das KMG verfolgt den Zweck, den Anlegerschutz durch ausreichende Informationen, die dem Anleger eine sachgerechte Entscheidung ermöglichen, und durch Haftpflichten zu gewährleisten. Die kapitalmarktrechtlichen Normen schützen die ausdrücklich so bezeichneten (potentiellen) Anleger durch die Normierung von ihnen gegenüber einzuhaltenden Verhaltenspflichten. Sie behandeln den (Neu-)Aktionär damit wie einen Drittgläubiger, zumal Prospekthaftungsansprüche nur neuen Aktionären zustehen können (§ 11 Abs 5 KMG). Dem gegenüber wird der bestehende Aktionär als Risikoträger angesehen, dessen Interessen hinter jenen der Drittgläubiger nachrangig sind. § 11 KMG schafft somit ein Recht, das Gläubigerrechten näher steht als Aktionärsrechten. Die als schadenersatzberechtigter Gläubiger erhobenen Prospekthaftungsansprüche und deren Befriedigung stellen keinen Tatbestand der Einlagenrückgewähr nach § 52 AktG dar, weil sie nicht causa societatis erfolgen, sondern auf ihrer Stellung als Drittgläubiger beruhen; es ist daher auch nicht geboten, die Schadenersatzansprüche des als Drittgläubiger zu behandelnden Aktionärs auf das ausschüttbare Vermögen zu beschränken. Der OGH lehnte es auch ab, Prospekthaftungsansprüche auf Kleinanleger zu beschränken. Auch Großanleger oder qualifizierte Anleger, die eine prospektpflichtige Emission zeichnet, haben unbeschränkt das Recht, die im KMG vorgesehene Schadenersatzansprüche gegen die AG geltend zu machen.

Fazit: in letzter Konsequenz können Anlegeransprüche auch die Insolvenz der Emittentin bewirken. OGH 30.03.2011, 7 Ob 77/10i

Dr. Christian Nordberg

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Foto: ©Walter J. Sieberer

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